Der Weltjugendtag ist zweifelsfrei als Veranstaltung gelungen. Nicht nur die allermeisten Teilnehmer, sondern auch die Organisatoren und Gastgeber kehrten beeindruckt und zufrieden in den Alltag zurück. Das gilt in besonderer Weise für jene, die bereits vom 8. bis 15. August an [’magis], dem Vorprogramm der „ignatianischen Familie“ teilgenommen hatten. Auf Einladung der deutschen Jesuiten beteiligten sich über 20 ignatianische Gemeinschaften, Werke und Organisationen an diesem Großprojekt. Unter anderem beteiligten sich ignatianische Schwesterngemeinschaften wie die Congregatio Jesu (Maria Ward Schwestern), die Kongregation der Helferinnen, aber auch die Jesuit European Volunteers (JEV), die Gemeinschaft Christlichen Lebens (GCL) oder die Jugendverbände der GCL.
[’magis]
Der lateinische Titel „magis“ steht in der ignatianischen Spiritualität für das Anliegen, mehr mit Gott zu leben. Ignatius empfiehlt in seinem Exerzitienbuch, sich dieses Anliegen im Gebet immer wieder zu vergegenwärtigen:
„Bitten, um was ich begehre: Hier bitten um die innere Erkenntnis des Herrn, der für mich sich zum Menschen gemacht hat, dazu hin, das ich jeweils mehr ihn liebe und ihm nachfolge.“ (EB 104).
Den Herrn innerlich zu erkennen, um Ihn mehr zu lieben und Ihm nach zu folgen ist wie eine Kurzformel für die ganze Spiritualität der Exerzitien. Das [’magis] - Projekt versteht sich als ein Angebot, jungen Menschen etwas von diesem Geist der Exerzitien nahe zu bringen. Auf den Einladungen und Werbeflyern für [’magis] klang das folgendermaßen:
Was heißt magis? - Mehr mit Gott zu leben! Was will das [’magis] - Projekt? - Dabei helfen!
Die Logogestaltung des Wortes „magis“ deutete an, dass es dabei durchaus etwas Fremdes zu entdecken gibt. Die eckigen Klammern und der Apostroph vor der ersten Silbe entsprechen der phonetischen Schreibweise wie etwa in einem Wörterbuch. Ein solches konsultiert man, wenn man ein Wort noch nicht kennt. Was es wirklich bedeutet, mehr mit Gott zu leben, würde erst auf dem Weg selbst zu klären sein. Die Teilnehmer sollten es dort selbst entdecken. Sie sollten erleben können, was magis in ihrem Leben bedeutet. Wie bei allen Exerzitien bestand die Aufgabe der Veranstalter ausschließlich darin, geeignete Räume zu bereiten, in denen diese Klärung möglich wäre.
Exerzitien für 2500 Weltjugendtagspilger
Zwar gab es in den letzten Jahren verschiedene Versuche, die ignatianischen Exerzitien für junge Leute aufzubereiten, aber Exerzitien für eine Gruppe von über 2500 Jugendlichen aus der ganzen Welt war im deutschsprachigen Raum etwas ganz und gar Neues. Angesichts dieser großen Zahl war es unvermeidbar, das Projekt an verschiedenen Standorten parallel zu konzipieren. Auf der Suche nach geeigneten Orten dafür fielen insbesondere Städte mit ignatianischen Schulen in die engere Auswahl. Letztlich entschied man sich, die Pilger in acht deutschen Schulzentren sowie in Lüttich, Luxemburg und Straßburg zu empfangen. An jedem dieser Standorte wurden sechs oder mehr Exerzitiengruppen gebildet, so dass schließlich 84 Untergruppen mit je etwa 30 Teilnehmern gleichzeitig unterwegs waren. Damit verband sich allerdings das Problem, in diesem Zeitraum auch genügend kompetente Gruppenleitungen und Exerzitienbegleiter zu finden. Kaum ein Jesuit in Deutschland hatte bis dato schon einmal für eine internationale Gruppe Exerzitien gegeben. Aber auch hier erwies sich das ignatianische Netzwerk als sehr leistungsfähig. Nicht nur, dass sich viele Personen meldeten, um Leitungsverantwortung zu übernehmen. Auch war es möglich für diese Personen eine qualifizierte Vorbereitung zu organisieren. Glücklicherweise gehören auch Bildungshäuser wie das Caritas Pirckheimer Haus in Nürnberg oder das Heinrich Pesch Haus in Ludwigshafen zu den ignatianischen Kooperationspartnern. Dort und auch in der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen wurden in zahlreichen Wochenendschulungen über 200 Gruppenbegleiter aus dem In- und Ausland auf die interkulturelle und geistliche Dimension des Projektes vorbereitet. Insgesamt meldeten sich rund 400 überwiegend ehrenamtliche Personen im deutschsprachigen Raum und ca. 100 Personen im benachbarten Ausland.
Internationale Standards
Eine besondere Herausforderung bestand darin, ein Konzept zu erarbeiten, das den vielfältigen Erwartungen und Bedürfnissen der internationalen Partner genügen würde. Zweimal wurden Delegierte aus Europa und Übersee nach Frankfurt eingeladen, um das Konzept der internationalen Exerzitiengruppen zu diskutieren und die Vorgehensweise miteinander abzustimmen. Am Ende stand die Idee des „geistlichen Experiments“.
Geistlich Experimentieren in vielfältigen Formen
Sich für neue Erfahrungen zu öffnen und geistlich zu „experimentieren“ ist ein grundlegendes Element ignatianischer Pädagogik. Während der gesamten Ausbildung wird Wert darauf gelegt, dass die Jesuiten nicht nur Theoretisches lernen, sondern auch Praktisches ausprobieren. Im Rahmen so genannter „Experimente“ erproben sie verschiedene Tätigkeiten und Rollen und gewinnen so ein tieferes Verständnis für ihre Berufung (31.GK, D.9, 4). Im Sprachgebrauch der Jesuiten wird selbst für die Exerzitien bisweilen das Wort „geistliches Experiment“ benutzt. Immer geht es letztlich darum, sich „übend“ Gott „auszusetzen“. Während der Begriff „Exerzitien“ den Schwerpunkt auf die „Übungen“ legt, steht beim Wort „Experiment“ das Wagnis des Sich-Aussetzens und des Ausprobierens im Vordergrund. Bei [’magis] hat sich der Begriff des Experiments durchgesetzt. „Ignatianische Experimente zum Weltjugendtag 2005“ lautete der Untertitel in allen Veröffentlichungen. Ausschlaggebend dafür war, dass die Teilnehmenden tatsächlich in erster Linie einer ungewöhnlichen Situation ausgesetzt wurden: noch am Tag ihrer Ankunft in den Empfangszentren wurden die Pilger in internationale Untergruppen aufgeteilt. Diese neuen Gruppen waren keineswegs sprachhomogen. In der Regel entstammten die jeweils 30 Personen mindestens drei, oft sogar vier oder fünf verschiedenen Nationen mit ebenso vielen Muttersprachen. Der Reiz und die besondere Herausforderung für die Teilnehmenden bestand darin, in diesem Setting eng zusammen zu leben und vier Tage lang ein gemeinsames Programm zu gestalten: vom Kochen bis zum inhaltlichen Programm wurde alles in die Verantwortung der Gruppe gelegt. In den meisten Experimentgruppen hatte das lokale Leitungsteam nur die Unterkünfte und eine Grobplanung des Programms vorbereitet. Die konkrete Gestaltung oblag also der Gruppe, die sich entsprechend organisieren musste. Von außen gesehen, waren diese Programme überaus vielgestaltig. Jede der insgesamt 84 Experimentgruppen hatte ihren eigenen Schwerpunkt. Da gab es Gruppen, die jeden Tag zu Fuß unterwegs waren, andere mit mehr musisch-kreativen Aktivitäten, wieder andere, die die Begegnung mit sozialen Randgruppen oder auch mit andersgläubigen Menschen suchten. Die Unterschiedlichkeit der geographischen und logistischen Rahmenbedingungen und die verschiedenen Charismen der lokalen Verantwortungsträger kamen natürlich auch zum Tragen.
Das „[’magis] - Format“
Im Unterschied zur Vielgestaltigkeit und Individualität des äußeren Programms, war die geistliche Vorangehensweise für alle Experimente standardisiert. Analog zu den Exerzitien gab es für jeden Tag ein geistliches Oberthema und entsprechende Übungsanleitungen. Sie wurden meist im Rahmen eines Morgengebetes ausgegeben. Der erste Tag stand beispielsweise unter dem Oberthema „Ich bin mit dir“ (Dtn 31,1-8). Mit dieser Zusage Gottes wurden die Teilnehmenden in den Experimenttag hineingeschickt. Gleichzeitig wurden die Teilnehmenden angeregt, während des Tages ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was ihnen an Gutem und Schönen begegnen würde und worin sie diese Fürsorge und Zuwendung Gottes erfahren könnten. Im Unterschied zu klassischen Exerzitien gab es also keine Übungsanleitungen für das meditative Betrachten etwa biblischer Glaubenszeugnisse (üblicherweise vier bis fünf Einheiten am Tag), sondern lediglich Hilfestellungen zur Fokussierung dessen, was die Teilnehmenden den ganzen Tag über erleben würden, z.B. beim gemeinsamen Kochen, beim Wandern, im Schweigen, an einem anregenden Ort oder bei der Vorbereitung des abendlichen Gottesdienstes. Besonders wichtig waren deshalb die täglichen Zeiten des persönlichen Rückblicks auf den Tag und der geistliche Austausch in kleinen Sprachgruppen. Hier konnte das Erlebte noch einmal mit dem gemeinsamen Fokus „abgesucht“ und „verkostet“ werden. Wie bei normalen Exerzitien gab es darüber hinaus auch die Möglichkeit zum Einzelgespräch mit einer ausgebildeten Begleitperson. Immer ging es darum, das Erlebte geistlich zu vertiefen. Für Anordnung und Art dieser geistlichen Instrumente hat sich inzwischen die Bezeichnung [’magis]-Format eingebürgert. Es umfasst die Elemente Morgengebet mit Fokus für den Tag (1), Austauschrunde in Kleingruppen (2), persönlicher Tagesrückblick (3), Gottesdienst (4) und die Möglichkeit zum persönlichen Begleitungsgespräch (5).
Die Zeit nach den Experimenten
Nach vier Tagen in den Experimentgruppen trafen sich alle 2500 [’magis] - Pilger noch für zwei Tage auf der Loreley am Rhein und feierten gemeinsam das Erlebte. Diese Tage waren ganz im Stile des Weltjugendtages mit großem Aufwand vorbereitet worden: die Loreley Freilichtbühne und das gesamte umliegende Areal wurden gemietet, um für alle Pilger ein großes Zeltlager aufbauen zu können. Bischof Franz Kamphaus feierte am Sonntagnachmittag mit den [’magis] - Pilgern und Gästen aus nah’ und fern die Eucharistie und am Abend schloss sich in der Bühne ein Fest der Kulturen an, bei dem 20 Teilnehmergruppen Kostproben ihrer jeweiligen Kultur darboten. Auf einer kleinen Anhöhe ragte derweil ein Zirkuszelt in den Himmel, in dem permanent die Gelegenheit zur eucharistischen Anbetung bestand. Diese Zeit auf der Loreley stimmte schon ein auf die bevorstehenden Massenereignisse in Köln. Trotz der sehr verschiedenen Programmpunkte und Möglichkeiten auf der Loreley und später in Köln fiel die [’magis] - Gruppe nicht auseinander. Die Pilger blieben ganz im Gegenteil sehr miteinander verbunden. Selbst in Köln sah man sie noch in Kleingruppen zusammensitzen, um die abendlichen Austauschrunden weiter zu führen und auch dort das Erlebte miteinander geistlich zu „verkosten“. Ein gutes Zeichen und ganz im Sinne des ignatianischen Anliegens, dass die Suche nach dem „magis“ ein Leben lang andauert.
Perspektiven für die Arbeit mit jungen Erwachsenen
Zu Beginn und am Ende der gemeinsamen Woche wurden Teilnehmende und Mitarbeitende beim [’magis] - Projekt ausführlich zu ihren Erwartungen und Erfahrungen befragt. Entsprechende Fragebögen wurden in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle für Jugendpastoral (AfJ) der deutschen Bischofskonferenz entworfen und ausgewertet. Sowohl die Experimentgruppenleitungen als auch die Teilnehmenden bestätigen darin mit überraschend hoher Deutlichkeit, dass die Zeit in den Experimentgruppen für sie von großem geistlichen Nutzen gewesen sei. Laut 77% der Teilnehmerantworten boten die Experimente Gelegenheit, sich Gott „ganz nahe zu fühlen“. Für 79% war diese Nähe Gottes besonders im Zusammensein der Experimentgruppe erfahrbar. Eine Detailauswertung und Veröffentlichung der Evaluationsergebnisse steht zwar noch aus, fest steht aber schon jetzt, dass [’magis] - Experimente das bestehende geistliche Angebot für junge Erwachsene sehr bereichern. Auf der Jahrestagung der Arbeitsgruppe „Ignatianische Pädagogik“ im vergangenen September wurde daher angeregt, in Zukunft auch ohne Weltjugendtag diese Form der Gemeinschaftsexerzitien anzubieten. In kleinerem Rahmen könnten [’magis] - Experimente auch von einzelnen Institutionen wie Studentengemeinden oder Schulen organisiert werden. Da der Aspekt der Internationalität jedoch für sehr viele Teilnehmende besonders wichtig war (91% der Antworten bestätigen dies) liegt es nahe, für diese Veranstaltungsform Kooperationspartner im Ausland zu suchen. Dass [’magis] - Experimente auch in einem rein deutschsprachigen Kontext funktionieren, ist trotzdem denkbar. Voraussetzung dafür scheint allerdings, dass die jeweilige Experimentidee von der Zielgruppe als Herausforderung angenommen wird. Experimente leben von der Partizipation der Teilnehmenden. Deshalb scheint es unabdingbar, bei der Vorbereitung eines derartigen Angebotes Personen, für die es gedacht ist, in die Überlegungen einzubeziehen. Wie sonst soll erkannt werden, ob ein Projekt reizvoll, langweilig oder gar überfordernd ist? Wird das Experiment einmal von den Teilnehmenden als Herausforderung akzeptiert, ist das [’magis] - Format eine brauchbare Form zur Realisierung der ignatianischen Grundintention. Es hat sich in Kombination mit den unterschiedlichsten Projektideen bewährt. Egal ob eine Gruppe eher ergebnisorientiert die Musik für das Fest auf der Loreley vorbereitete oder ganz zweckfrei eine Begegnung mit behinderten Menschen suchte, das [’magis] - Format wurde von den Teilnehmern geschätzt. Natürlich belegen die verschiedenen Elemente einen gewissen Teil der Veranstaltungszeit, aber sie belasteten das Programm nicht mit zusätzlichen Inhalten. Im Gegenteil, das Programm wurde durch die freigehaltenen Zeiträume des individuellen und gemeinschaftlichen „Verkostens“ intensiviert.
Eine Kultur des gemeinsamen Unterbrechens
Im Kern handelt es sich beim [’magis] - Format um gemeinschaftliche Formen des Unterbrechens und der „liebenden Aufmerksamkeit“ (Willi Lambert). Die einzelnen Elemente sind flexibel auf alle möglichen Veranstaltungsarten übertragbar. Bei den Vorbereitungswochenenden und dem Nachtreffen der Experimentgruppenleiter wurde jeder Arbeitstag ganz selbstverständlich in der Kapelle begonnen. Ein Lied, eine kleine Achtsamkeitshilfe für den Tag und ein paar Minuten Stille genügten. Vor dem Mittagessen wurde Zeit frei gehalten für einen zweiten Besuch in der Kapelle, diesmal ganz in Stille für einen persönlichen Tagesrückblick. Auch der Austausch der Eindrücke des Tages in Kleingruppen und die Feier eines Gottesdienstes gehörten dazu. Es hat sich gezeigt, dass diese einfachen Elemente gemeinschaftlichen Unterbrechens die Atmosphäre der Veranstaltungen positiv beeinflusst haben.